Gastmahl

Spielorte

Universiät der Künste Berlin,
Institut für Kunst im Kontext
24. März 2015

Konzept

Ein biografisch-dokumentarisches Theaterprojekt mit SchülerInnen des Thomas-Mann-Gymnasiums

Eine irakischtürkischkurdischlibanesischdeutschpolnischmarokkanische Familie
Ein Familienessen mit Gästen
Ein Fest mit unbekanntem Ausgang

In der Performance in Form eines Gastmahls, die am 24. März 2015 an der Universität der Künste in Berlin stattfand, setzten sich die SchülerInnen mit den migrantischen Wanderungsbewegungen ihrer Familien und ihren hybriden Identitäten auseinander. Das Projekt wurde durch ein Video und eine Broschüre dokumentiert. Das Nachwort dieser Dokumentation beschreibt den Prozess und die Präsentation ausführlicher:

Making of Gastmahl

„Kann man das sagen, Heimaten? Ist das korrektes deutsch? Oder wie heißt das,
wenn ich zwei Länder habe, die für mich Heimat bedeuten?“
Diese Frage stellte eine Schülerin am Thomas-Mann-Gymnasium im Märkischen Viertel in Berlin während unserer Proben zu dem biografisch-dokumentarischen Theaterprojekt „Gastmahl“. Von September 2014 bis zur Präsentation am 27.3.2015 beschäftigten wir uns mit den umfangreichen migrantischen Wanderungsbewegungen der SchülerInnen und ihrer Familien. Von insgesamt 15 TeilnehmerInnen stammen zwei aus Deutschland, sieben SchülerInnen haben türkische, drei libanesische, eine marokkanische, einer irakische und einer polnische Wurzeln. Viele von ihnen haben einen deutschen Pass und bezeichnen sich doch als AusländerInnen.
In welchem ethnisch-kulturellen Spannungsfeld wachsen die SchülerInnen auf? Welche Konsequenzen hat dieses Spannungsfeld für die Entwicklung der Identität in der Phase der Adoleszenz? Und wie verändert sich das individuelle Heimatgefühl, wenn die Familie in mehreren Ländern gelebt hat oder immer noch lebt? Entwickeln sich dann „Heimaten“, wie im Beispiel der Schülerin oder bildet sich ein neuer, hybrider Raum in diesem „Dazwischen“?

Über mehrere Monate befragten die SchülerInnen ihre Verwandten, recherchierten zu der politischen und sozialen Situation in den Herkunftsländern, sammelten historische und aktuelle Fotos und Dokumente und versuchten, ihrem persönlichen Interesse an den umfangreichen Rechercheergebnissen Gestalt zu geben. Die Methode des biografisch-dokumentarisches Theater nimmt hierbei die individuelle Lebensgeschichte als Ausgangspunkt eines ästhetischen Prozesses im Kollektiv. Ziel ist, die eigene Biografie in einen gesellschaftspolitischen Kontext zu stellen und individuelle Narrationen zu entwickeln, die eine Reflexion und Erweiterung der Erfahrungen darstellen. Im Zentrum dieser theatralen Untersuchung stand die Frage, ob man sich eine bewegliche Konstruktion von Heimat aktiv aneignen und performativ erlebbar machen kann und ob die Idee einer hybriden Identität neue Erfahrungs- und Möglichkeitsräume eröffnet.

„Meine Heimat ist geteilt, weil meine Familie geteilt ist.“ sagt Ipek, deren Eltern aus der Türkei nach Deutschland kamen, während des Gastmahls. Und Stran beschreibt den Garten seiner Kindheit im Irak als Sehnsuchtsort und ist doch froh, in Deutschland zu sein, nachdem seine Familie über Syrien, Jordanien, Dubai, Frankreich, Norwegen und Schweden nach Berlin kam und aus Dankbarkeit blieb, weil sein Vater dort am Herzen operiert wurde und überlebte.
Die Erzählungen der SchülerInnen beschreiben sowohl die Zerrissenheit ihres Heimatgefühls, als auch ihre hybride Kultur; ein emotionaler Spagat zwischen den Welten, die immer schon kulturelle Transiträume waren. Die Alltagskultur des gemeinsamen Essens und des Feierns verdeutlicht diese Themen, macht sie sinnlich konkret und für Gäste performativ erlebbar.
Nida in der Rolle „der“ türkischen Mutter erzählt während des Gastmahls: „Wir mixen einfach alles zusammen. Sucuk, türkische Würstchen mit Pide und Ketchup sind unsere Hot Dog´s. Die türkische Küche hatte immer schon ganz viele Einflüsse: indisch, persisch, kurdisch, armenisch…. “
Das Konstrukt einer homogenen nationalen Esskultur wird somit ad absurdum geführt und die Speisen des Gastmahls sind paradigmatisch für die hybride Kultur der DarstellerInnen. Joghurtsuppe, Kohlrouladen, Huhn mit Reis und Gemüse und Piroggen verwandeln sich zu „entorteten“ Gerichten, die keine nationalen, sondern individuelle Bedeutungsträger sind. Nesserin bringt z.B. in der Rolle ihres libanesischen Vaters ein landestypisches Gericht mit, Hühnchen mit Gemüse und Reis. Der Vater kam als gelernter Koch nach Deutschland, kochte dort nach seiner Aufnahme in einem Heim für Asylsuchende für seine Nachbarn und später, nach der Heirat mit einer deutschen Frau für ihre Familienmitglieder genau dieses Gericht, um ihnen seine Kultur näher zu bringen. Ein konkretes Angebot von Gastfreundschaft als Vermittlung zwischen den Welten. Während Nesserin dies erzählt, wird das Gericht an die Gäste verteilt und kollektiv verspeißt. Nesserin wählte für ihre Erzählung die Perspektive ihres Vaters, in den sie sich während des Gastmahls verwandelte und schafft sich so einen anderen Blickwinkel auf ihre eigene Familiengeschichte. Eda hingegen entwickelte eine fiktive Figur, eine Business Frau, die erfolgreich ihre selbsterfundene Schokolade vertreibt. Ihre Erzählung basiert auf biografischen Erlebnissen ihrer Großmutter, die in den 1960er Jahren aus der Türkei nach Berlin kam und in mehreren Schokoladenfabriken arbeitete, um die Familie zu ernähren. So changieren die Erzählungen zwischen Fakten und Fiktionen, die sich untrennbar miteinander verweben und den Wünschen der SchülerInnen nach einer eigenen Identitätsfindung innerhalb einer hybriden Kultur Gestalt geben.
Heimat in Bezug auf nationale Zugehörigkeit hat dabei ausgedient. Laura erzählt gegen Ende des Gastmahls: „Ich lebe schon seit meiner Geburt in Berlin-Reinickendorf. Deswegen bedeutet Heimat etwas anderes für mich als für die Leute, die von einem anderen Land hierher gezogen sind oder von hier in ein anderes Land. Für mich bedeutet Heimat nicht wirklich das Land, in dem ich lebe, sondern die Personen, die um mich herum sind. …Im Grunde geht es mir ähnlich wie Ipek. Meine Heimat ist meine Familie und meine Freunde. Nicht Deutschland.“

Freunde und Familienmitglieder, LehrerInnen und die Schulleiter der SpielerInnen kamen am 27.3.2015 zu der Performance am Institut für Kunst im Kontext an der Universität der Künste Berlin, um gemeinsam zu Essen, zu Tanzen, zu Feiern und Aufzuräumen. Eine gemeinsame Aktion als Heimat auf Zeit. Es wurde ein rauschendes Fest.

Team

Künstlerische Leitung: Gudrun Herrbold
Betreuende Lehrerin am Thomas-Mann-Gymnasium: Jacqueline Beier
Video und Fotos: Jürgen Salzmann/ Constanze Fischbeck
Gestaltung: Constanze Fischbeck

SpielerInnen:
Stran Abdulkhaliq, Robert Babst, Ipek Büyükkircali, Eda Demirci, Myriam Hossni, Mariam Jabado, Mustafa Kaynak, Nesserin Myri, Mert Narin, Sonya Thiel, Laura Tobehn, Azad Unal, Wael Yahya, Alican Yildiz, Nida Yilmaz

Gastmahl wurde gefördert vom Berliner Projektfonds Kulturelle Bildung